Kunst

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Foto

Die Zeit scheint still zu stehen.

Es ist leer hier. 

Die Oberflächen sind kahl. 

Mein Umfeld steril. 

Ich sehe niemanden. 

Das Material ist uniform.
Meine Umgebung ist genau geschaffen. Flächen sind ganz klar definiert.
Alles hier hat die gleiche Struktur.

Ich bin umgeben von Papier.

Es ist ruhig hier. Nichts bewegt sich.
Alles scheint mir unwirklich, zu präzise, zu geometrisch.
Keine Ungenauigkeiten sind zu sehen, keine Fehler.
Die kleine Welt erscheint mir unecht.
Schon echt, aus Papier. Eine echt kleine Welt. Aber eben doch nicht echt. Es gibt kein Leben hier.
Ich kann sie beleben. Indem ich sie beschreite.

So bin ich hier, in der wirklichen Unwirklichkeit.
In einer kleinen Welt wo es keine anderen Menschen gibt. Weil diese Welt nicht für Menschen geschaffen ist.

Herr Demand hat sie geschaffen, mit Schere und Leim, diese kahle Welt.
Den suche ich. Nur, ich sehe niemanden. Es scheint nicht realistisch, ihn hier zu finden. Einer Eintagsfliege könnte ich hier begegnen. Aber sicher nicht Herrn Demand.
Dafür ist er wohl einfach zu gross.
Hier in dieser Welt, wo find ich den bloss?

Ich schaue in die Welt hinein.

Hier ist alles nicht ganz fertig.
Ganze Flächen fehlen. Sie sind einfach nicht da. Manchmal sogar ganze Wände.

Sie steht hier mit Lücken.
Fragmente bilden in dieser Welt Einheiten.
Ich befinde mich nicht in einer geschlossenen Hülle, nein, vielmehr in einem offenporigen Körper. Diese Welt scheint mir gänzlich unvollkommen und trotzdem in ihrem Zustand abgeschlossen. Sie ist fertig so.

Herrn Demand finde ich hier nicht.
Er muss da draussen sein und ich bin hier drinnen.
Ich sage mal drinnen, da sich in diesem Gebilde von Defiziten die Frage nach dem Standpunkt stellt.

Auf meiner Suche schreite ich hindurch.
Trete ein und gehe wieder.
Nichts hält mich fest.
Wann immer ich möchte, verweile ich und betrachte diese kleine, unvollkommene Welt. Sie ist nicht nur fragmentarisch gebaut.

Vorne, da ist überhaupt nichts. Offen ist da die Welt.
Nix, Nada.
Oben auch.

Oben dringen Strahlen ein.
Herr Demand hat der Welt dieses Licht gebracht. Starr verharrt es an Ort und Stelle.
Das ewige, gleichförmige Licht erfüllt den Raum. Es ist ohne Kraft, schwach und dumpf.
Der Schein erhellt, nur wärmt mich nichts.
Es bleibt unverändert hier.

Meine Stimmung bleibt auch unverändert.

Vorne offen mit Licht von oben. Dieses Gebilde ist mir sehr vertraut.
So finde ich mich wieder im fahlen Rampenlicht inmitten des Bildes.
Plötzlich werde ich zum Protagonisten in meiner eigenen Sache und Suche.
Ich übernehme die Hauptrolle in eigener Regie und beschliesse, auf meiner Suche nach Herr Demand erstmals nichts Weiteres zu tun.

Mir ist ein wenig kühl.
Ich verlasse die kleine Welt und schaue mir an, was ausserhalb geschieht.

Ich treibe in diesem beschränken Universum.
Nahezu schwerelos, im glasklaren Wasser.
Ich tauche umher in dieser fantastischen Höhle.
Mir ist endlich mal warm. Sechsunddreissig Komma fünf Grad fühle ich. Angenehm lebendig ist es hier.

Licht dringt durch eine kleine Öffnung, um auf der gegenüberliegen Seite gegen die Wölbung zu scheinen. Der Raum erhellt sich im Pulse der Strahlung.
Das Rauschen der äusseren Welt zeichnet sich hier drinnen ab.
Immer wieder von neuem.

Immer wieder.
Das eine löst das andere ab.

Ich drehe mich kopfüber und lese.

Ständig strömt Neues nach und ersetzt Vorhandenes.
Unaufhörliche Erneuerung erfährt das Halbrund in unbeschreiblich vielen Wiederholungen.

Das Licht löscht hier seine latente Fracht des Gegenwärtigen. Es bringt nichts Bleibendes. Doch schafft es immer heran.
Es hält nicht inne, rastet nicht und bleibt nirgends.

Es bringt die Aktualität von aussen, pausenlos.

Den Strom der Zeit trägt es heran. Das Eine kommt. Das Andere geht.

Ein reges Treiben hier drinnen.
Nichts stockt. Alles trifft reibungslos auf.

Ich bin mal wieder drinnen und alles andere ist draussen.
Meine Suche soll sich an einem anderen Ort fortsetzten.
Ich gehe weiter und verlasse diese Sphäre der ewigen Erneuerung.

Die Welt kennt weder Tag noch Nacht.
Herr Demand hat die Sonne fest am Himmel verankert.
Die Lichtverteilung des Herrn folgt seinem eigenen Willen.
In seinem meisterhaften Gesamtplan scheinen die Tageszeiten die Gesetze der Natur nicht zu kennen.

Hier ist immer Tag und da draussen herrscht das ewige Dunkel der Nacht.

Schön hat er das gemacht. Ich setz mich hin. Der Tag ist lang, ich habe Zeit.
So sitze ich eine Weile auf der vorderen Kante dieser kleinen Welt. Meine Beine baumeln hin und her. Hinter mir das ewige Licht, vor mir unendliche Dunkelheit.
Ich betrachte die Gestirne und sehe schwarz.

Mir fröstelt ein wenig.

Ein rundes Objekt in der absoluten Leere scheint mir einigermassen greifbar. Es ist dunkler, dichter, gedrängter.
Der schwarze Fleck hängt da oben, ich fühle mich beobachtet.
Nur ist in dieser Einöde keine Menschenseele.

Das Loch starrt mich einäugig an. Ich starre ungläubig zurück.

Es reagiert nicht, bewegt sich nicht, es steht nur da. Ich stehe inmitten seines eisernen Blicks. Genauso unbeweglich wie die kleine Welt.
Und ich stehe mittendrin.

Dann erscheint ein grosser Umriss in der Dunkelheit. Die unendliche Weite schrumpft. Ich sehe Herrn Demand und blicke zum Loch.
Die Freude über unsere erste Begegnung hält sich in Grenzen.

Mir schaudert.
Meine Seele möchte ich behalten. Ich hau ab.

Ich blicke wieder gegen eine kleine gläserne Fläche.
Dünne Linien ziehen sich in einem rechtwinkligen Netz über die Fläche. Ein Glas wie Dürers Scheibe.
Nur viel matter.

Das Äussere schlägt sich auf der Scheibe nieder.
Ein hauchdünner Film von Licht liegt auf dem dicken Glas.
Gestochen scharf zeichnet es auf der matten Scheibe.
Rein und makellos ruht es in unvorstellbarere Klarheit.
In feinster Gliederung wiederspiegelt sich alles.
Ein Bild von unvorstellbarer Präzision.
Die Welt hinter meinem Rücken hat sich im Verlust an Dimension nochmals zu einem klitzekleinen Winzling von porentiefer Reinheit perfektioniert.
Das dreidimensionale Bild wird hier wortwörtlich platt gemacht.
Es wird gegen die Fläche geworfen – und augenblicklich «verzweidimensioniert».

Immer noch starr und kühl.
Kahl und entleert.
Uniform und noch viel unwirklicher als zuvor.

Ich stehe fassungslos im kleinen Saal und staune über das grosse Kino. Über die Scheibe schiebt sich der Vorhang der Nacht.
Kurze Zeit später endet das Lichtspiel.
Dann bleibt es stockdunkel.

Der Erdball wurde wieder Scheibe und ich stehe wieder voll im Bild.

Inzwischen komme ich mit dem Zustand von räumlicher Trennung ganz gut zurecht. Ich tappe hier drinnen im Dunkeln und Herr Demand ist schon wieder draussen.

Ich geh weg und suche weiter.

Ich renne, da ich pünktlich zur Vollendung da sein will. Nun stehe ich ausser Atem im Raum.
Der Raum ist leer.
Die kleine Welt nirgendwo.

Ich bin zu spät.
Ich ärgere mich.
Die Fluchworte bleiben auf meiner Zunge liegen. Mir fehlt der Atem um sie in unbestimmter Reihenfolge in den leeren Raum abzugeben.

Ich bin schweissgebadet und mir gegenüber steht Herr Demand. Ihm trieft der Schweiss ebenfalls aus allen Poren.

Mit roher Muskelkraft zwingt er die letzten Stücke der Materie in die runde Form.
In seinen Händen hält er die kleine Welt.
Und keine Menschenseele hat sie je zu Gesicht bekommen.
Die zahlreichen Flächen bilden nun einen festen Körper, ein kleiner kompakter Erdball. Seiner wird er sich in den folgenden Augenblicken entledigen.

Dann folgt ein kleiner Schritt für Herr Demand.
Für die Welt könnte der Rückschritt nicht grösser sein. Er legt sich den Ball zu Füssen. In einem letzten grossen Kraftakt macht er die Welt dann platt.
Herr Demand wischt den Schweiss von der Stirn.
In ritterlicher Pose steht er mit dem einen Fuss auf der Scheibe.

Ich ärgere mich.
Die Welt wollte ich nach der Vollendung sehen.
Nun hat er sie heimlich dem Erdboden gleich gemacht.

So sind wir hier.
Er steht da und ich hier.
Seine Genugtuung steht ihm in den Schweiss geschrieben.

Die Vorbereitung auf ein mögliches Leben im Jenseits ist abgeschlossen.

Wortlos stehen wir uns gegenüber.
Dann entsorgt er die Scheibe.
Die Tat kann ich noch immer nicht fassen.

Hier ziehe ich meine Linie.

Herr Demand hält den Behälter ganz behutsam in der Hand.
In dieser Kassette liegt der Träger.
Er ist sehr empfindlich.
Es gibt viele Träger, doch Herr Demand braucht nur diesen einen.

Im Moment wo er für einen Bruchteil einer Sekunde das Licht erblickte, hat er an sich gerissen, was er greifen konnte.
Er nahm ohne Berührung.
Er schlang vom Strom der Zeit und lies alles unberührt weiterlaufen. Nur einen einzigen Augenblick hat er aus dem Jetzt gelöst.

Was der Träger einmal an sich nimmt das hält er fest und lässt es nicht mehr los.

Gewöhnlich scheut der Träger das Licht.
Nur das eine mal nahm er die tödliche Dosis.
Dann schwanden seine Kräfte und er erlag an der aufgenommenen Last.

Ich rieche das Parfum der ewigen Ruhe.
Eine unrunde Komposition von scharfer Chemie und fauligen Eiern.

Herr Demand hält die Kiste noch immer in der Hand.
Jetzt löscht er die Laterne und zündet stattdessen das rote Totenlicht an. Er kümmert sich um den Träger.

Er bettet ihn in die schwarze Dose.
Dann mischt er einige Tinkturen nach strenger Rezeptur. Zum letzten Mal wäscht er den Träger in der salzigen Lösung. Am Ende ist dann alles fix.

Ich bin auch fertig und verlasse den Raum.

Ich laufe auf einem weiten Feld und erkunde das weisse Nichts. Die Fläche zu durchqueren dauert eine Ewigkeit.
Trotz der Anstrengung forsche ich weiter.
Meine grosse Entdeckung sind vier Ecken.

Gefolgt von vier Kannten.
Ausser mir und meinen acht Entdeckungen gibt es hier rein gar nichts. Kein Staubkorn. Nichts.
Hier ist alles blank und plan.

Den Herrn Demand gibt es natürlich schon noch. Er ist grösser als je zuvor.
Hoch oben dreht er an den Rädern.

Dann lässt Herr Demand das Licht auf dem Boden scheinen. Einmal.
Dafür mit voller Kraft.

Leicht benommen fühle ich erst keine grosse Veränderung. Das Blatt läuft vom Stapel und sticht in See.

Die Erde unter mir ist in Schwingung.
Es ist nicht das sanfte schwanken der Ozeane. Der Boden blubbert.
Erst nur leicht.
Dann stärker, sehr viel stärker.
Die Fläche spannt sich.
Dann reisst die Kruste.

Wo ich hinsehe kommen grosse Partikel aus dem weissen nichts. Riesige Körner schiessen auf allen Seiten in die Höhe.
In allen erdenklichen Farben spriessen sie empor.

So unerwartet wie die Veränderung kam, so abrupt bricht das Wachstum wieder ab. Alles steht still. Keine Bewegung. Nichts mehr.

Verdutzt über den Wandel betrachte ich das einstige Nichts.
Überall wo das Licht auf die weisse Platte fiel, stehen nun farbige Körper.
Die groben Körner schillern, glitzern, glänzen und versperren mir vor allem den Weg. Unüberwindbare Brocken stehen meiner Kleinigkeit plötzlich im Weg.

Es bleibt mir nichts anderes, als die Formen zu umgehen um den Weg in die Freiheit einzuschlagen.

Herr Demand hängt alles an den Nagel.

Sein letzter Akt in diesem Spiel.
Nach dem letzten Hammerschlag verlässt er den Raum.
Der letzte Ton versinkt in ewiger Stille.
Ich stehe das allerletzte Mal vor der Welt.
In der Vertikalen präsentiert sich die Welt in ihrem ganzen Glanz.

Fahl, flach und glatt.
Nun dürfen es alle sehen.
Nach dem Verlust einer Dimension ist nichts, wie es mal war. Viel ist gegangen und wenig geblieben.
Ich stehe vor der versiegelten Fläche.
Ich war mittendrin und nun stehe ich draussen.
Alles steht fest.

Das Schicksal ist besiegelt. Die Würfel gefallen.
Die Spiele gemacht.
Nichts geht mehr.

Herr Demand hat den Raum schon lange verlassen. Ich halte noch einmal inne.

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